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Rede von Außenministerin Baerbock bei der Konferenz „Europe25“ von ZEIT, Handelsblatt, Wirtschaftswoche und Tagesspiegel

27.03.2025 - Rede

„Ob du es magst oder nicht – du wirst dich damit abfinden müssen, meine Hübsche.“

Diese Zeile stammt aus einem russischen Lied.

Der russische Präsident Putin zitierte diese kaum verhohlene Anspielung auf eine Vergewaltigung – mit einem kaum merklichen Lächeln im Gesicht – als er über sein Nachbarland sprach. Zwei Wochen bevor er den Befehl zur vollen Invasion der souveränen Ukraine gab.

Kein Zufall. Ein Satz voller Chauvinismus. Ein Satz voller Machthunger, voller Zynismus und Menschenverachtung. Ein ruchloser Satz.

Drei Jahre später steht nicht nur der russische Präsident für diese Weltsicht – die nicht auf Regeln basieren soll, sondern auf dem Recht des Stärkeren. In der die Mächtigen Striche auf der Landkarte ziehen und die anderen sich fügen, sich damit dann „abfinden“ müssen. Zur Not unter Einsatz von Gewalt – auch sexualisierter Gewalt.

Eine Weltsicht, in der politische Akteure bereit sind, Regeln, Partnerschaften, über Jahrzehnte aufgebautes Vertrauen von einem Tag auf den anderen zu zerschlagen. Im Zweifel mit einem Tweet. Eine Welt der Ruchlosigkeit.

Es ist die außenpolitische Aufgabe unserer Zeit, uns damit nicht abzugeben, sondern gemeinsam mit unseren Partnern gegen diese Welt der Ruchlosigkeit ein- und aufzustehen. Die regelbasierte internationale Ordnung zu verteidigen. Und zwar nicht primär, weil es eine Frage der Moral ist, sondern weil das in unserem tiefsten Sicherheitsinteresse ist.

Wir erleben auch in Deutschland, dass manche sich laut fragen, ob wir nicht doch auch vom Recht des Stärkeren profitieren könnten; die sich wünschen, dass einer mal hart durchgreift. Wir hören, dass manche sagen: Europarecht, internationales Recht, liberale Demokratie – das ist doch nur ein Merkmal von Verweichlichung.

Das Gegenteil ist aber der Fall. Regeln machen uns stark. Sie sind unser bester Selbstschutz.

Wir sind ein starkes Land. Aber wenn wir uns mit offenen Augen in der Welt umschauen, sind wir keine militärische Weltmacht. Wir sind kein Öl- und Rohstoffimperium. Wir sind ein Smart-Power-Land.

Unser Land ist dann stark und erfolgreich – als drittstärkste Volkswirtschaft der Welt – wenn Handelsrouten frei und sicher und unsere Sicherheitsbündnisse verlässlich sind. Wenn für unsere Unternehmen das internationale Recht gilt, der Zugang zu anderen Märkten offensteht. Wenn Fachkräfte mit ihrem Know-how zu uns kommen können.

Auf dem Spielfeld der Ruchlosigkeit hingegen können wir nie gewinnen. Wir können uns auf diesem Spielfeld nur fügen und uns damit zum Spielball von anderen machen.

Alleine können wir auf dieser Welt nur verlieren. Daher war unsere Antwort nicht nur auf den 24. Februar vor drei Jahren so klar, sondern auch nach der Wahl des neuen US-Präsidenten und der Ankündigung America first. Wir haben klar und deutlich gesagt, unsere Antwort ist: Europe United.

Und Europe United auch in dem Verständnis: Europe bold and brave. Entschlossen und standhaft.

Die Lage ist ernst, keine Frage. Aber ich glaube, weil sie so ernst ist, hilft kein Jammern.

Da hilft es nicht, zu sagen: wir schwimmen jetzt ein bisschen mit und kämpfen jeden Tag nur darum, dass wir nicht untergehen.

Sondern: wir müssen bold and brave sein. Wir können aus meiner Sicht aus dieser schwierigen Situation, aus dieser schwierigen Zeit gestärkt hervorgehen – als Deutschland, im Herzen Europas. Bold and brave – vor zwei Wochen haben wir das im Deutschen Bundestag gezeigt. Mit finanziellen Mitteln, mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung zur Grundgesetzänderung.

Die finanziellen Mittel sind jetzt da. Scheitern kann es jetzt nur am politischen Willen, an der eigenen Ambitionslosigkeit. Wer in Europa, wer in Deutschland in diesen ruchlosen Zeiten Verantwortung trägt, der muss sich aus meiner Sicht klarmachen: Ein bisschen zwischen den Stühlen, das wird nicht funktionieren. „Ein bisschen starkes Europa“ – das ist aus meiner Sicht so wie „ein bisschen schwanger“. Das geht nicht.

Es geht darum, mit voller Energie – ohne Zaudern, sondern mit Klarheit – jetzt zu handeln. Im Sinne von drei Aspekten: selbstbewusst, entschlossen und mit starken Partnern.

Natürlich heißt Selbstbewusstsein nicht Selbstüberschätzung. 84 Millionen Menschen sind nicht die allermeisten auf dieser Welt. Wir müssen uns auch nicht selbst stark reden. Aber wir müssen unsere Stärken und auch unsere Schwächen kennen und mit unseren Stärken strategisch klug umgehen, sie strategisch einsetzen.

Dann sind wir stärker, als so manche denken. Als Europa haben wir den größten gemeinsamen Binnenmarkt der Welt. In Deutschland halten wir weltweit jedes siebte Patent. Als EU 27 sind wir bei mehr Warengruppen führend im Export als China – von Flugzeugen bis zur Medizintechnik.

Und ja, wir alle lieben auch iPhones. Und ja, wir haben zum Beispiel bisher keine große eigene, europäische Social Media Plattform auf die Beine gestellt.

Aber wir haben den Digital Services Act – und der ist kraftvoll. Wir haben in den letzten drei Jahren eine gemeinsame europäische Toolbox geschaffen, eigentlich in Reaktion auf eine andere große Weltmacht – das EU Anti-Coercion Instruments.

Wenn andere, gerade am heutigen Tag, also 25 Prozent in den Raum stellen, dann können wir auch unsere Toolbox in den Raum stellen.

Für viele, viele Menschen auf dieser Welt ist die Europäische Union der attraktivste Ort, um zu leben, zu arbeiten, zu studieren Von den laut der Universität Oxford 20 glücklichsten Ländern der Welt sind mehr als die Hälfte in der EU. Im Übrigen ist davon kein einziges Land eine Autokratie.

Als Europa haben wir einen großen Anteil daran, dass nach dem 24. Februar 2022 über 150 Länder weltweit gegen die russische Aggression aufgestanden sind. Das sind deutlich mehr als zwei Drittel der Staaten dieser Welt. Dass die Ukraine auch im vierten Jahr von Russlands brutalem Krieg weiter als freies und demokratisches Land existiert, das hätte Anfang März vor drei Jahren niemand geglaubt.

Wir haben es im Februar 2022 innerhalb eines einzigen Wochenendes, geschafft, als EU 27 die russischen Staatsreserven einzufrieren. Genau diese Entschlossenheit brauchen wir auch jetzt.

Wenn andere nach dem Motto verfahren „move fast and break things“ und die Kettensäge zu ihrem Lieblingsinstrument erklären, werden wir es Ihnen ganz sicher nicht nachmachen.

Aber unser Motto kann auch nicht sein „Keep calm and watch from the side lines“.

Und deswegen müssen wir uns auch ehrlich fragen, welche Blockaden uns heute eigentlich im Weg stehen.

Wir können nicht über jedes Stöckchen springen. Aber es kann auch nicht sein, dass wir erstmal drei Monate darüber diskutieren: Wie handeln wir jetzt eigentlich, wenn uns Zwangsmaßnahmen angedroht werden?

Eine Blockade wurde hier gerade von den Verteidigungsministern schon intensiv diskutiert: Die europäische Rüstungsindustrie ist nach wie vor national geprägt – und sie ist damit ineffizient. Wenn wir in Europa weiter mit 150 verschiedenen Waffensystemen hantieren und diese nicht miteinander kompatibel sind, dann können wir auch das allermeiste Geld der Welt dafür ausgeben - wir werden nicht schlagfähig genug sein. Deswegen ist es aus meiner Sicht bei der Europäischen Verteidigungsunion nicht mehr die Frage, ob, sondern wie schnell bringen wir diese jetzt auf den Weg?

Und dass unser europäischer Kapitalmarkt nach wie vor fragmentiert ist, führt dazu, dass wir viel Geld haben, viel privates Kapital, es aber leider auf anderen Märkten, die immer mehr zu unseren Konkurrenten werden, investiert wird. Also kann es keine andere Antwort geben, als endlich die gemeinsame Kapitalmarktunion zu schaffen.

Und wenn der Kern der EU im Prinzip der gemeinsamen Entscheidungsfindung besteht, und Artikel 4 Absatz 3 des EU-Vertrages sagt, dass das Ziel der „Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit“ ist, dann können wir uns einfach nicht weiter mit der Situation abfinden, dass seit drei oder vielleicht seit zwei Jahren ein einziges EU-Land genau das Gegenteil macht. Und dieses Land nicht nur bei jeder Sanktionsrunde alle sechs Monate immer wieder gegen diese loyale Zusammenarbeit arbeitet, sondern auch die Beitrittsgespräche mit der Ukraine blockiert.

Die Perspektive der EU-Mitgliedschaft ist nicht nur ein zentrales Zukunftsversprechen an die Ukraine, sondern wir haben in dieser Welt schmerzhaft gelernt, dass es für unsere eigene Sicherheit auf unserem eigenen Kontinent keine Grauzonen mehr geben darf. Das gilt nicht nur für die Ukraine und Moldau, das gilt gerade auch für den Westlichen Balkan. Und daher ist in einer Situation, in der die Sicherheit Europas so bedroht ist, in der wir nicht immer klar wissen, auf welcher Seite die Amerikaner stehen in einem Moment, wo wir seit dem Ende des Kalten Krieges nie solche Sorgen gehabt haben wie jetzt, Entschlossenheit das Allerwichtigste. Und daher heute zum Abschluss mein eindringlicher Appell: Die qualifizierten Mehrheitsentscheidungen in den zentralen Fragen der europäischen Außenpolitik, sie müssen jetzt endlich geschaffen werden.

Wir können es uns nicht weiter leisten, dass wir hier nicht voll handlungsfähig sind. Wenn Artikel 4, Absatz 3 des EU-Vertrages zählt und der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gilt, dann ist es jetzt an der Zeit, deutlich zu machen: wer diesen Grundsatz blockiert oder attackiert, der muss mit einem anderen Artikel rechnen. Drei Artikel weiter unten.

Ob man ihn ergreifen muss, das weiß man nicht. Aber was ich weiß ist, dass wir uns mit einer Gruppe von Staaten zusammengetan haben. Etliche, die mit qualifizierten Mehrheitsentscheidungen immer gehadert haben, weil sie kleinere Länder sind, weil sie Sorge hatten, dass Deutschland das in der Außenpolitik für sich nutzen würde und kleine Länder hinten runterfallen könnten. Aber es sind in den letzten drei Jahren immer mehr Staaten geworden in unserer „Group of Friends“, die deutlich gemacht haben, gerade auch die baltischen Staaten, die nordischen Staaten, die lange Zeit dagegen waren: Wir wollen uns nicht abfinden müssen, wir wollen selber handeln und Maßnahmen ergreifen. Wir wollen, dass Sanktionspakete weitergeführt werden, dass wir nicht bei jedem Erweiterungsschritt diesen Verhandlungsprozess haben. Sondern dass wir etwa, wenn wir einmal die Entscheidung getroffen haben, den Erweiterungsprozess zu starten, dann bei den einzelnen Kapiteln auch mit qualifizierter Mehrheit vorankommen können.

Denn der dritte Punkt, weltweit Partnerschaften und Bündnisse zu schaffen, der funktioniert natürlich nur, wenn sich nicht andere Partner immer fragen: „Ihr kriegt das doch noch nicht mal mit 27 hin.“ Das heißt, diese „Group of Friends“, die in der EU mit neuen, mutigen Vorschlägen vorangeht, die braucht es auch weltweit.

Und da ist in den letzten drei Jahren aus meiner Sicht etwas geschehen, was ich aber auch als Chance gerade für uns als Europäer sehe, erst recht mit Blick auf die Wahlen in den USA und das vermeintliche „Ende des Westens“. Es ist doch eigentlich gut, dass wir bei G20 nicht mehr eine vermeintliche Sitzordnung haben. Auf der einen Seite der Westen, auf der anderen Seite die BRICS. Dass auf Klimakonferenzen dort die Industriestaaten sind und hier die Entwicklungsländer, der „globale Süden“ versus den „globalen Norden“. Geografisch hat das sowieso nie einen Sinn gemacht. Sondern wir haben erlebt, nicht nur bei den Abstimmungen bei den Vereinten Nationen, dass immer wieder 140 Staaten, nicht unbedingt für die Ukraine, aber für die regelbasierte internationale Ordnung waren. Und bei den Klimakonferenzen, die mittlerweile geopolitische Konferenzen sind, da waren 160 Staaten, die gegen die Blockade, gegen die Spoiler waren. Weil sie gesagt haben: Fidschi hat mit uns jetzt nicht so sonderlich viel gemeinsam. Aber wir alle wissen: Wenn die Regeln in der Klimapolitik, in der Außenpolitik, in der Sicherheitspolitik nicht mehr zählen, dann kann kein Land ruhig schlafen.

Und deswegen ist Partnerschaft in diesen Zeiten so wichtig. Sie ist eine Chance für Europa, denn auf Europa vertraut man als verlässlicher Partner. Wir brauchen also weiterhin mehr ernsthafte und vor allem vertrauensvolle Diplomatie. Und das heißt aus meiner Sicht eben nicht, anderen nach dem Mund zu reden, sondern Ehrlichkeit, dass die anderen spüren: man kann sich auf Deutschland und auf Europa verlassen.

Und da gibt es größere Bündnisse als die, die uns selber früher immer gut gefallen haben. Zum Beispiel die G7. Starke Volkswirtschaften und Demokratien. Aber es gibt auch andere starke Volkswirtschaften und Demokratien auf unserer Welt. Japan und Kanada sind bei G7 dabei. Neuseeland, Australien, Südkorea, aber eben nicht. Eine Zusammenarbeit mit diesen Akteuren ist das, was wir weiter stärken müssen.

Und das gilt für viele andere Länder auf dieser Welt, die weit weg sind, die sicher nicht alle unsere Werte teilen. Aber der Kernwert, der vereint fast alle Staaten auf dieser Welt: dass die Charta der Vereinten Nationen, der Respekt der territorialen Integrität und Souveränität der beste Selbstschutz sind. Denn kein Land auf dieser Welt, das nicht selber eine Atommacht ist, kann in diesen ruchlosen Zeiten ruhig schlafen. Wenn es immer wieder Angst haben muss, dass sein größerer Nachbar es einfach überfallen kann – und die anderen schweigen.

Das heißt, unsere Verlässlichkeit, unsere Smart Power, unser Einsatz für die regelbasierte internationale Ordnung, sind unser größter Standortvorteil. All die Unternehmen aus all diesen Ländern, die wollen ihr Geld doch dort investieren, wo sie wissen, dass sie nicht morgen per Dekret zu Strafzöllen verdonnert werden. Oder wie in Russland, wo für all viele Unternehmen von einem Tag auf den anderen all ihre Investitionen nichts mehr wert waren, weil sie sich zurückziehen müssen.

Letztes Jahr wurde bei den Verhandlungen über das Mercosur-Abkommen nach Jahrzehnten nochmal so deutlich: Wenn wir in entscheidenden Momenten endlich gemeinsam handeln, dann sind wir unglaublich stark. Wenn die Staaten Lateinamerikas und Europas deutlich machen, bei all den Unterschieden, die wir zu Agrarprodukten haben: Uns eint das Interesse an einer regelbasierten Welt. Wirtschaftlich und sicherheitspolitisch. Dann werden wir die Kraft finden, die wir gemeinsam brauchen. Wenn man Mercosur, CETA, und die anderen Abkommen mit Australien und Neuseeland alle zusammengepackt, dann ist das nicht nur eine Smart Power, sondern dann ist das eine Riesenpower auf dieser Welt.

In diesem Sinne: Man muss sich nie mit etwas abfinden im Leben, erst recht nicht auf seinem eigenen Kontinent.

Es ist nicht unser Schicksal, in einer ruchlosen Welt zu leben.

Wir als Europäer haben es gemeinsam mit anderen in der Hand.

Wir sind der größte gemeinsame Binnenmarkt der Welt.

Wir sind gemeinsam die größte Freiheits- und Friedensunion.

Wir haben Kraft, wenn wir selbstbewusst sind, wenn wir entschlossen handeln und im partnerschaftlichen Geist mit anderen.

Das wird niemals einfach sein.

Aber jeder Tag harte Arbeit lohnt sich.

Denn es ist unser Europa.

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